Mittwoch, 27. August 2014

Platin Alpenbrevet 2014


http://www.alpenbrevet.ch/


Zieldurchfahrt nach 14h55min 270km, 7000hm
So sehen Sieger aus? Diese kaputte Witzfigur? Lächerlich.

Trotzdem habe ich mich in diesem Moment als Sieger gefühlt. Als Sieger über mich selbst, über das Wetter und über die Strecke und vor Allem über die vermaledeite Kontrollzeit auf dem Susten.

Ich hatte es geschafft. Trotz der hm-untauglichen Vorbereitung und der schlechten Form . Aber fragt nicht wie ...

Schon im Vorfeld war klar, dass es kein Zuckerschlecken wird. Meine Vorbereitung war dieses Jahr auf die langen aber eher flachen Brevets ausgerichtet. Das hatte auch gut funktioniert. Für die 5 Pässe der Platinrunde war das aber suboptimal. Zusätzlich konnte ich mich in den letzten Monaten nicht aufs Radfahren konzentrieren. Kondition und Gewicht litten darunter.
Aber beim Alpenbrevet kann man sich ja unterwegs noch umentscheiden. Gold sollte in jedem Fall drinliegen. Und dafür hatte ich mit Rainer einen bewährten und zähen Partner.
Nach dem Einzelstart um 6:02 geht es in der Morgendämmerung locker in Richtung Grimsel. Erst mal warm fahren. Dazu hatten wir beide vorher kein einziges Körnchen übrig. Nach ein paar hundert Meter überholt uns der Thomas-Jörg-Express und ward nicht mehr gesehen.
Den Grimsel hoch geht es planmässig. Die Tagesform scheint ok. Natürlich nur im Rahmen der Möglichkeiten, aber immerhin.
Am Grimsel: Auffi muess i, auffi
Oben auf dem Grimsel heisst es erst mal alles anziehen was man hat. Kalt, windig und neblig. Das dauert ewig. Und dann ist Rainer unauffindbar. Eventuell ist er voraus. Ansonsten warte ich am Fuss des Nufenen während ich die Klamotten wieder ausziehe.
Auf trockenen Strasse geht es nach Gletsch runter. Es wird langsam wärmer. In Ulrichen sind die Temperaturen zwar nicht sommerlich, aber immerhin erträglich. Raus aus den Regensachen und warten auf Rainer. Leider nix zu sehen. Notgedrungen geht es ohne ihn weiter. Wenn ich mich für Gold entscheide habe ich alle Zeit der Welt um in Airolo auf ihn zu warten. Aber solange Platin noch eine Option ist, muss ich mich sputen. Oder der Bergfloh ist vor mir. Dann muss ich erst recht los. Wieder auffi, der Nufenen ruft.
Durch die Kleiderstopps bin ich schon 6min hinter der Marschtabelle. Und die ist verdammt knapp in Bezug auf die alles entscheidende Zeitkotrolle auf dem Susten. Aber der ist ja noch so weit weg.
Den Nufenen hoch läuft es gut. Nicht dieser eklige Gegenwind auf der langen Geraden bis zu den Spitzkehren ab Altstafel wie beim letzten Mal. 4min aufgeholt - und weiter geht's den steilen Schlussteil hoch. Oben bin ich wieder in der Zeit und kann ohne grosse Verzögerung nach 90sec Trinkflasche füllen weiter. Runter ins Tessin reicht der Windstopper. Bergab geht es sehr flott vorwärts. Auch hier fehlt der übliche Talwind. Die Sonne scheint. Euphorie kommt auf.  Trügerisch, sehr trügerisch.
Die Abfahrt vom Nufenen verfliegt mit einem 54er Schnitt und nach 4:40 bin ich an der Verpflegung in Airolo. Meine selbstgesetzte Deadline für Platin war 4:50. Damit ist die Entscheidung gefallen. Heute ist wieder Tag der Beknackten und ich fahre Platin. Ab geht's in Richtung Biasca. Die Goldrunde lasse ich links liegen. Viel Glück, Rainer.
Schon nach 2km kommt eine Baustellenampel vor der sich ein Trupp von ca. 20 Platinfahrer sammelt. Trotz der Verzögerung ein Glücksfall. Der harte Kern der Gruppe arbeitet gut zusammen und wir realisieren von hier bis Biasca einen 44er Schnitt. Allerdings gehen mir meine Ablösung ganz schön in Beine.
Nach einer ausgiebigen Pause in Biasca geht es im Bummeltempo in Richtung Lukmanier. Ich will mich etwas erholen. Das kostet allerdings Zeit. Nach 20km mangelt es zusätzlich an Flüssigem. Ich hätte die fast leer 2. Trinkflasche mit Konzentrat auch mit Wasser auffüllen sollen. An einer Tankstelle bei km146 mache ich dann einen entscheidenden Fehler. Gierig trinke ich eine halbe Trinkflasche auf Ex und prompt beginnt die Pulsarhythmie, die mich den Rest der Strecke quälen sollte. An sich harmlos. Aber der Sauerstofftransport ist reduziert. Scheibe. Dabei hätte es besser wissen müssen. Kleine Schlucke, Idiot, kleine Schlucke. 
Der Lukmanier zieht sich ewig. Noch schlimmer als der Susten. Wegen dem holprigen Puls fahre ich vorsichtig weiter. Aber ich fühle mich gut. Zumindest was das Cardiosystem angeht. Die Beine werden gegen Ende des Passes schwer. "Egal, nur noch knapp 2500hm. Peanuts" sage ich zu mir. Glauben tue ich das allerdings selbst nicht.
Oben auf dem Lukmanier bin ich wieder auf die Marschtabelle zurückgefallen. Runter nach Disentis durch Baustellen und alleine gegen den Wind gewinne ich nichts.
Also rein in den Oberalp. Schon wieder so ein flacher Anstieg. Dafür Rückenwind. Aber beides nur am Anfang. Hinter Sedrun beginnt das Drama. Erst bricht der eisige Nordwind durch und dann beginnt der steile Hauptteil des Oberalp. Und die Beine werden so richtig schwer. Langsamer geht nicht mehr, weil das rechte Bein anfängt zu zucken und droht bei noch niedrigeren Trittfrequenzen zu krampfen. Aus dem letzten Loch pfeifend schaffe ich die Passhöhe. Jetzt müsste fertig sein. Ich bin es nämlich.
Aber es wartet ja noch der Susten. Wenn ich nur dran denke ...
Der Wind hat mich 10min gekostet. So komme ich auch nach einer kalten, nebligen Fahrt runter nach Andermatt an der Verpflegung an. Kurze Pause, diesmal bloss genug Trinken fassen. Eine Ladung Gels eingepackt. Die eigenen sind aufgebraucht und feste Nahrung geht nicht mehr. Hoffentlich vertrage ich das fremde Zeugs. Die Schöllenenabfahrt bremst zum Glück wenig. Die Baustellenampeln sind relativ gnädig.
In Wassen in der Einfahrt zum Susten hoch beginnt es zu tröpfeln. Die Wettervorhersage verhiess nichts Gutes für den Pass. Aber jetzt schon? Trotzdem ziehe ich die Regenkleidung aus. Wieder 3min verloren. Anfangs geht es im Zeitplan weiter.
Das Grauen beginnt 800hm vor der Passhöhe. Krampf im rechten Oberschenkel. Erst nach gebührender Wartezeit kann ich wieder weiter. Jetzt wird es wirklich eng. Um 19:45 ist offizieller Kontrollschluss auf dem Susten. Schnipp Schnapp, Nummer ab. Das wollte ich nach dem Regendebakel bei der Trophy auf keinen Fall nochmal erleben.
Einerseits die Kontrollzeit die einen vorwärtstreibt, andererseits das Zucken im rechten Schenkel das zur Vorsicht zwingt. Ein wunderschönes, quälendes und schmerzendes Dilemma.  Egal, weiter.
120hm weiter stehe ich schon wieder mit Krämpfen. Diesmal brauche ich 3 Versuche um ohne Krampf im Wiegetritt weiterzukommen. Ab jetzt versuche ich möglichst oft in den Wiegetritt zu gehen. Das kostet die letzten Kraftreserven. Nach einem weiteren Nothalt kommt der etwas flachere Mittelteil des Anstiegs, den ich zwar langsam aber ohne Krämpfe schaffe. Die Reserve auf die Kontrollzeit ist allerdings entgültig futsch. DNF, ich hör' dir trapsen.
Bei der Motorradfahrerhütte (Tvaellen-Cola-Gedächtnishütte) ist der Regen schliesslich so stark, dass ich die Regenkleidung anziehe. Stimmt ja, der Regen. Den habe ich bis hierher ganz vergessen. Und auf den letzten 400hm kann ich mich auch nur noch vage daran erinnern.
Diese 400hm, wieder ziemlich steil, sind der Hammer. Nur eine lange Rampe, dann zwei Spitzkehren und dann der Tunnel. Lächerliche 4km. Aber ich muss noch 8-mal anhalten. Entweder Krampf oder keine Kraft mehr für Wiegetritt. Oder beides. Viermal hält eines der offiziellen Begleitfahrzeuge und frägt ob sie helfen können. Ob es noch geht. Ich lüge wie gedruckt. Kein Problem, nur ein bisschen Krampf. Irgenwann beim dritten oder vierten Stopp sehe ich auf dem Beifahrersitz des Begleitfahrzeugs einen aufgelesenen trotz dicker Decke vom Schüttelfrost geschüttelten Ausgestiegenen. Ab dann war mir alles egal. Kontrollzeit hin oder her, mit oder ohne Nummer, du fährst da jetzt rauf und dann wieder runter, bis ins Ziel. Basta.
Das half. Zwar bewirkte das Voigtsche "Shut up legs and do what I tell you." nur ein müdes, schiefes Grinsen und den nächsten Krampf, aber langsam ging es weiter.
Endlich, endlich der Tunnel. Null Sicht. Dichte Wolken. Und auf der anderen Seite noch stärkerer Regen.
Nun hiess es Abschied nehmen von der Nummer und der Wertung. Es war 19:53. 8 Minuten zu spät.
Aber als ich zur Versorgungsstelle eiere und ein Cola runterkippe kommt kein seitenschneiderbewehrter Bösewicht auf mich zu. Nix. Nur betriebsames Versorgen schwankender, nasser, zittender Radzombies. Wassnhierlos?
Schliesslich frage ich vorsichtig nach. Zeitnahmematte? Kontrollzeit? Die staubtrockene Antwort: "Keine Matte. Aber wenn du um 20:00 noch hier bist, schneiden wir dir die Nummer ab."
Das ist der absolut geilste Moment. Nicht die Zieldurchfahrt. Nein, genau dieser Moment als ich weiss: nur noch den Susten runter und über den klitzekleinen Hubbel bei der Aareschlucht. Dieser Moment ist die ganz Plackerei wert. Für diese 10sec macht man sowas.
Schnell noch 3 Becher Cola, die Flasche füllen und los. Bloss runter vom elenden Susten.
Dichter Nebel? Starkregen? Ich friere nicht mal. Jedenfalls spüre ich nichts. Jetzt bloss keinen Unfall bauen. Wie auf Eiern ging es in Richtung Meiringen. Aber im Vergleich zu den Kollegen ohne brauchbare Rgenbekleidung, die quasi im Schritttempo den Pass runterschlichen war ich richtig schnell.

Irgendwann bin ich unter der Wolkendecke. Irgendwann wird der Regen schwächer. Irgendwann wird es wärmer. Mich betrifft das nur noch am Rande. Ich muss mich auf die Strasse konzentrieren, beginne über Kreuz zu gucken und leichte Schlangenlinien zu fahren. Irgendwie war ich nicht mehr so ganz frisch. Komisch. Nach einer halben Trinkflasche Cola geht es langsam wieder und ich kann es rollen lassen.
Auf der Ebene und über die Aareschlucht fahre ich schön langsam. Bitte keinen Krampf mehr.
Die 6 Holländer, die sage und schreibe um 19:58 oben am Susten waren und frenetisch von ihren hysterischen Frauen gefeiert wurden, überholen mich noch. Ich gönne es ihnen von Herzen.
Zieldurchfahrt, Becker-Faust. Fertig. Genau, fix und fertig.
"Jetzt reichts. Nie mehr Radfahren." ist dann auch mein Kommentar zu der jungen Dame, die die Nummer abknipst. "Ja, ja. Bis nächstes Jahr." ist die Antwort.

Woher weiss die das?